Die Deutsche Filmakademie trauert um Wolfgang Kohlhaase
Mit großer Trauer erfuhren wir, dass unser Ehrenmitglied Wolfgang Kohlhaase heute verstorben ist. Wir verneigen uns vor dem großartigen Drehbuchautor, der uns so oft auf Veranstaltungen beehrt hat und dieser Akademie so nah war.
Andreas Dresen hat ihm diesen Text gewidmet:
Liebe, Tod und Wetter
Für Wolfgang Kohlhaase
Es sind gerade mal 30 Seiten. Da schreibt einer von den Schwierigkeiten, den richtigen Menschen zu finden, von Einsamkeit und Alter, von erster Liebe und erstem Schmerz, vom Absturz und vom Aufgefangen-Werden. Vom ganzen Leben in einem halben Berliner Sommer. Er schreibt es so, dass man lachen muss, obwohl es ziemlich traurig ist. Es ist nicht das große, konstruierte Drama, es sind all die banalen, kleinen, traurigen, lustigen Geschichten, die Alltag bedeuten. 30 Seiten, auf denen mehr steht, als in manch dickem Roman. Ich lache, ich weine, alles kommt mir vertraut vor, die Figuren, der Ton. Es ist ein Drehbuchentwurf von Wolfgang Kohlhaase. Er trägt den etwas saloppen Titel „Sommer vorm Balkon und so weiter“. Im Frühling 2004 bekomme ich diese Seiten in die Hand gedrückt. So beginnt unsere erste gemeinsame Arbeit.
Wir waren uns einige Male begegnet, hatten einander versichert, dass wir gerne zusammen etwas machen würden. Wie man das eben so sagt, ehrlich, aber doch unverbindlich. Uns trennten über dreißig Jahre. Wie viele Menschen meiner Generation bin ich mit seinen Geschichten aufgewachsen. Manche zielen auf die Zeit, in denen er noch ein Kind gewesen ist, den großen Krieg, die Nazizeit, andere mitten in die Gegenwart: „Ich war 19“, „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“, „Solo Sunny“, „Der Aufenthalt“. Filme, die Wolfgang geschrieben hat. Sie haben meine Sicht auf die Welt und das Kino nachdrücklich geprägt. Manche seiner wunderbaren Dialoge kann ich auswendig. Die Schlagersängerin Sunny schmeißt einen Liebhaber morgens mit den Worten raus: „Is ohne Frühstück.“ Und als er mault fügt sie hinzu: „Is auch ohne Diskussion.“
Die Kunst von Wolfgang ist Poesie in Kurzform. Pathos oder Sentimentalität sind ihm fremd. Er beschreibt komplizierte Dinge mit einfachen Worten, fast aphoristisch, Gefühle verstecken sich scheu zwischen den Zeilen und überraschenden Wendungen. Die Sprache von Wolfgang ist nie leichtfertig, sondern chirurgisch präzise und klar. In ihrer Lakonie trifft sie trotzdem mitten ins Herz. Das hat damit zu tun, dass er die Menschen und seine Figuren mit den Augen der Liebe betrachtet.
In Wolfgangs Drehbüchern kommen Regieanweisungen im klassischen Sinne nicht vor. Es gibt keine in Klammern gesetzten Einschübe vor Dialogsätzen, welche die Stimmung der Figuren genauer erläutern. Dafür manchmal kleine, kommentierende Sätze von großer poetischer Genauigkeit. Hier vertraut jemand seinen Partnern und dass sie genau lesen können.
82.Bild, Truck, Dämmerung
Die Türen der Kabine stehen offen. Nike und Ronald essen belegte Brote und trinken Cola dazu.
Ronald: Deine Stullen sind gut. Ist überhaupt schön, dass du mit bist. Sonst ist es manchmal sehr einsam.
Nike: Du sollst verheiratet sein und ein Kind haben?
Ronald: Wer erzählt denn so was?
Nike: Habe ich gehört.
Ronald lacht eine Weile künstlich, aber schließlich klingt es echt.
Ronald: Wenn es wahr wäre, würde ich es zugeben.
Nike: Du musst nicht lügen. Musst du nicht. Ich habe nichts mit dir vor.
Jedenfalls will sie glauben, dass es so ist.
Wie in dieser kleinen Szene aus „Sommer vorm Balkon“, sagen die Figuren oft nicht, was sie meinen, manchmal genau das Gegenteil. Gerade, wenn sie sich danach sehnen, geliebt zu werden. Sie verstecken ihre Verletzlichkeit hinter einer robusten, manchmal rauen Schale, die sie unverwundbar scheinen lässt. Sie lassen sich nicht so schnell in die Karten gucken. Das macht ihr Geheimnis aus und bringt sie uns gerade deswegen nahe. „Wo kein Geheimnis ist, gibt es keine Wahrheit.“, heißt es in einer Kurzgeschichte von Wolfgang.
Sein Humor ist nie verächtlich. Die Menschen versuchen, ihrem kleinen Leben die größtmögliche Würde abzugewinnen. Manchmal ziehen sie dabei die falschen Schlüsse. Der Taxifahrer Harry sagt in „Solo Sunny“: „Mensch Sunny, bei der Kohle, die ich verdiene kann ich doch nicht doof sein.“ Ronald, der Trucker, meint in „Sommer vorm Balkon“ auf die Frage, was er denn in seinem großen Auto eigentlich transportiere: „Meistens Teppiche. Aber das füllt mich nicht aus. Nicht beruflich und auch nicht menschlich.“
Kleine Menschen und ihre großen Träume. Bei Wolfgang ist das lustig, aber nie lächerlich. Und immer wieder verblüfft es, wie einfach und einleuchtend selbst schwierigste Gefühlslagen beschrieben werden. Ob anekdotisch oder im großen erzählerischen Bogen – man meint, es immer schon gewusst zu haben und hätte es doch niemals so formulieren können. Wolfgangs Geschichten sind ein Spiegel, in dem man sich erkennt, ungläubig, erstaunt, kopfschüttelnd, manchmal lachend.
Große historische Brüche haben sein Leben geprägt. Das Ende der Nazizeit, der Bau und Fall der Mauer. Dass er sich immer für Menschen interessiert hat und nicht für Ideologien, machte die Übergänge leichter. Er wirkte auch im Alter manchmal wie ein großer Junge, der sich gerade einen neuen Streich ausgedacht hat. Im Gespräch rieb er sich bisweilen die Hände an der Brust, so wie andere sich an der Stirn kratzen. Es war eine unbewusste Geste, als wolle er sich im Gedankenflug seiner Körperlichkeit versichern, sich konzentrieren, ohne grüblerisch zu sein. So blieb er im Nachdenken offen.
Jede Art von Künstlerattitüde war ihm fremd, intellektuelle Phrasendrescherei sowieso. Seine Kunst hatte immer etwas mit Partnerschaft, Freundschaft zu tun. Wolfgang traf sich nicht nur mit Menschen, um mit ihnen zu arbeiten. Er wollte mit ihnen das Leben teilen. Er war treu. Gerhard Klein, Konrad Wolf, Frank Beyer hießen einige seiner wichtigsten Weggefährten.
Die gemeinsame Arbeit war immer wunderbar unkompliziert. Wie Arbeit sein kann, wenn man die Sicht auf Welt und Menschen teilt. „Ein Drehbuch schreiben ist das Notieren einer Geschichte zum Zwecke ihrer Verfilmung.“, sagte Wolfgang. Die Sache so gut wie möglich zu machen, da war er pragmatisch und vollkommen uneitel. „Dramaturgie ist ein System von Regeln gegen die permanente Bereitschaft eines Publikums, sich zu langweilen.“, sagt er. Sätze wie dieser brachten einen in Versuchung, ständig mitzuschreiben.
Vor wenigen Tagen haben wir noch miteinander telefoniert. Wolfgang war wie immer, voller Tatendrang. Er war 91, was heißt das schon. Ich konnte mir nie vorstellen, dass er einmal nicht mehr da sein könnte. Wir hatten Pläne.
In „Whisky mit Wodka“ wird der Regisseur von einem Bühnenarbeiter gefragt, was denn nun eigentlich die Botschaft seines Drehbuchs wäre. Wolfgang lässt ihn antworten:
Die Botschaft, wie Sie es meinen, gibt es vielleicht nicht. Man macht einen Film ja nicht, weil man Bescheid weiß, sondern um etwas zu entdecken. Film ist Vermutung, verstehen Sie? Es geht um immer neue Bilder für die Dinge, die sich immer wiederholen. Wie soll ich es ausdrücken? Die großen Phänomene. Die Liebe, der Tod und das Wetter.
Gerne verweisen wir auf das Podcast-Gespräch, das Christian Schwochow im letzten Jahr mit ihm führte:
Und auf unserem Filmbildungs-Portal vierundzwanzig.de finden Sie ein Interview mit Wolfgang Kohlhaase zu dem Thema: Wie Wolfgang Kohlhaase seine universalen Geschichten im Alltag der DDR fand: