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Abschied von Klaus Lemke – Ein Nachruf von Dominik Graf

Gestern Abend, am 7. Juli 2022, erreichte uns die traurige Nachricht, dass Klaus Lemke verstorben ist. Die Deutsche Filmakademie verneigt sich vor diesem großen Filmemacher mit einem Text von Dominik Graf.

Ich mußte wieder dieser Junge werden, der ich mal war…

—Klaus Lemke im Interview (2014)

Fast hätte er mal den Ehrenpreis der Filmakademie bekommen. Eine Stimme fehlte, und am Ende bekam ihn dann doch wieder einer der üblichen Verdächtigen, von dem man gedacht hätte, der hat den doch schon längst? Und Lemke wäre ja auch eigentlich auf ewig zu jung dafür gewesen. Denn während wir alle immer auf den gediegenen Abendveranstaltungen zum „German Film” rumstehen, präsentierte Klaus Lemke seit gut zwanzig Jahren quasi wie an einem Verkaufsstand in der Fußgängerzone nebenan einen stetig anwachsenden Bauchladen von handmade Filmen, eine solitäre Werkskette, jeder dem anderen ähnlich, und doch jedes Mal neu. Höhepunkte dabei vielleicht „Finale“ (2006) und „Berlin für Helden“ (2012). Ich sehnte mich nach immer weiteren solchen Werken, nach einer permanenten Serie von einmaligen Lemke- Lebensmomenten, fortgesetzt in die Unendlichkeit.

Trauerbeflaggung allenthalben wäre jetzt angezeigt. Und das Schisma im deutschen Film lebt dennoch weiter: Lemke gegen das Berliner Klugscheisser-„Staats-Kino“. Unermüdlich versandte er in den letzten Jahren weltweit Propaganda-Smsen gegen die Kulturbürokratie. Seine zweite Haut war Widerstand. Vor allem gegen den bürgerlichen Autorenfilm, „alles Jungs und Mädchen, die ihre Abitursaufsätze nochmal schreiben wollten. `Schau mal hier Papi, was ich alles kann!’“ (O-Ton Lemke). Am Beginn seiner Karriere standen Gangsterfilme, „48 Stunden bis Acapulco” mit Christiane Krüger 1967, und „Negresco” 1968 (mit dem Jet Set Girl Ira von Fürstenberg und mit Gérard Blain, der zuvor eine Hauptrolle beim für Lemke gottgleichen Howard Hawks gespielt hatte!) — aber damit wäre er danach fast im süssen Leben an der Cote d`Azur versackt, riß sich ’69 nochmal vom Frührentner- Klappstuhl hoch, „ich mußte wieder der Junge werden, der ich mit 23 mal war“ — und fand mit „Brandstifter“ – einer RAF-Paraphrase in Köln — sowie mit dem All Time Favourite „Rocker“ in Hamburg und dem Liebesfilm „Sylvie“ in München und auf den Twin Towers in NY endgültig seinen Ton und sein Ziel. Ein Kino der im wahrsten Sinn Augen-Blicke und der unverwechselbaren Dialog-Sprache, der rauhen deutschen Oberflächen und Orte, aber dabei in den Gefühlen der Figuren zueinander (oder voneinander weg) im Grunde so zärtlich wie kaum eine:r. Auch ein Kino der labyrinthischen Erzählformen, denn es passiert schon in „Rocker”, daß mitten im Film die Hauptfigur wechselt. „Rocker” ist Avantgarde! Und ethnologische Randgruppen-Forschung gleichzeitig.

Er hat Schauspieler erfunden, die keine waren, allen voran den Großpathetiker Paul Lys, „der in seiner Genialität wie die Rocker provozierend reden konnte“ (Lemke), oder wie die Bombe Cleo Kretschmer, oder den sanften Hallodri Wolfgang Fierek, und wie in den letzten Jahren noch gut ein halbes Dutzend andere. Eben nicht von der Schauspielschule sondern am liebsten gleich Stars von der Straße. „Seit Rocker nehme ich Leute in den Hauptrollen, von denen ich das Gefühl habe, daß sie stärker sind als ich.“ Vor allem Frauen.

Und in „Rocker” gibt es auch jene Szene, in der dieser Sich-selbst-Darsteller Lys grinsend seinen widerstrebenden — im Film — kleinen Bruder hinter sich herzieht (Hans Jürgen Moschiedler mit Brian Jones Haarschnitt und Schuluniform) über die von herbstlich spätnachmittäglicher Rush hour durchströmte Reeperbahn, hinein ins einstige Zentrum bundesdeutscher Lust. Wo ihn, Paul Lys, der eigentlich nur seinen geklauten Daimler sucht, dann der Tod in Gestalt eines Zuhälters ereilen wird. Man sieht heute sofort, daß für diese Einstellung nicht abgesperrt wurde. Kein Aufnahmeleiter in roter Jacke drückt sich da am Bildrand rum, um die Autos im Griff zu behalten. Die beiden mussten selber sehen, wie sie über die rappelvolle Strasse kommen. Tja, auf diesen paar Sekunden 16mm-Film ist so vieles: Spontaneität, Improvisation, die Kamera hält nichts Inszeniertes fest, und auch eigentlich gar nichts szenisch Besonderes, sondern einen Momentschnappschuss auf die Zeit, ihre Atmosphäre, und auf die komplizierte Zuneigung der ungleichen Brüder.

Ich hab 2015 in einem 2 Stunden Interview versucht, Lemke Geheimnisse seiner Arbeit zu entlocken — am Ende hatte er natürlich mich über den Tisch gezogen. Und ich durfte ihn mal inszenieren! Als Zuhälter in einer Serienfolge.… — und natürlich inszenierte er sich selbst. Mit einer einzigen grossen Szene überlagerte er sogar den Rest des Films.

Zu „Berlin izza bitch” (2020) sagte er auf Anfrage: „Wer die Bitch ist? Das bin natürlich ich.” Dies ist sicher kein Abschied. Klaus Lemke bleibt uns.

Dominik Graf