Diversity Kolumne #3: Intersektionalität als Zukunftsperspektive
In unserer dritten Ausgabe der Diversity Kolumne schreibt Natasha A. Kelly über „Intersektionalität als Zukunftsperspektive“ und erklärt die Besonderheit des Konzepts der Intersektionalität: es beschreibt die Überschneidung und Gleichzeitigkeit von verschiedenen sozialen Identitätskategorien, wie „sex, class, race und gender“. Es geht um den Ursprung des Konzepts in der Schwarzen US-amerikanischen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts und seine (politische) Bedeutung für heutige Identitäts- und Diskriminierungsdiskurse und letztlich um die Frage: Was können Medien und Film für intersektionale Gerechtigkeit leisten?
Intersektionalität als Zukunftperspektive
Ein Gastbeitrag von Natasha A. Kelly
Seit einigen Jahren ist das Konzept ‚Intersektionalität‘ nicht mehr aus feministischen Kontexten wegzudenken. Und das ist auch gut so! Das Wort intersection kommt aus dem Englischen und bedeutet nichts anderes als ‚Kreuzung‘. Der politische und wissenschaftliche Ansatz wurde über Jahrhunderte hinweg von Schwarzen US-amerikanischen Feministinnen entwickelt, um Sichtbarkeit für die spezifische sozialpolitische Position von Schwarzen Frauen und anderen von Mehrfachdiskriminierung betroffenen Gruppen zu schaffen. Denn während Rassismus hauptsächlich auf Schwarze Männer beschränkt wurde und Sexismus auf weiße Frauen, erlaubte der intersektionale Ansatz die Erfahrungen von Schwarzen Frauen, die gleichzeitig Rassismus und Sexismus erleben, in den Blick zu nehmen. Als Modewort besteht jedoch Gefahr, dass der Ursprung des Konzepts ignoriert wird, was dem strukturellen Rassismus geschuldet ist.
Intersektionalität nahm seinen Anfang in der Schwarzen US-amerikanischen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts und kann auf die Frauenrechtlerin und Freiheitskämpferin Sojourner Truth zurückgeführt werden, auch wenn der Ansatz zu diesem Zeitpunkt noch keinen Namen trug. 1851 stellte die ehemals Versklavte die inzwischen berühmt gewordene Frage: „Ain’t I a Woman?/Bin ich etwa keine Frau?“ und kritisierte damit sowohl ihren gelebten Rassismus, der ihr nicht nur von weißen Männern, sondern auch von weißen Frauen entgegengebracht wurde als auch die sexistische Diskriminierung, die sie von Schwarzen und weißen Männern erleiden musste. Doch die Stimmen von Sojourner Truth und anderen Schwarzen Frauenrechtlerinnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurden durch den Fokus auf weiße Frauen und den Versuch die Frauenbewegung zu homogenisieren auf dem Weg nach Deutschland übertönt. Dennoch haben Schwarze Feministinnen aus den USA schon mehrfach entscheidende Beiträge zur deutschen Intersektionalitätsdebatte geleistet. In den frühen 1980er Jahren wurden mit dem Sammelband „Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ (Ayim/Oguntoye/Schultz 1986) auf Initiative der Schwarzen US-amerikanischen Wissenschaftlerin, Aktivistin und Poetin Audre Lorde Schwarze Frauen ins Zentrum des feministischen Diskurses gerückt und erstmals Rezeptionslinien Schwarzer feministischer Theorie in Deutschland nachgezeichnet. Es sollte aber bis 1989 dauern, bis die Schwarze US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw den Begriff ‚Intersektionalität‘ prägte, obwohl der Ansatz seit seinen Anfängen kontinuierlich weiterentwickelt wurde und transinternational wirkte.
In der Forschung funktioniert Intersektionalität wie ein Prisma, durch das einzelne Identitätskategorien sowie ihre Verbundenheit miteinander beobachtet werden können. Intersektionalität ist demnach deskriptiv, weil sie Lebenserfahrungen beschreibbar macht und präskriptiv, weil sie Handlungsanweisungen für politisches und wissenschaftliches Arbeiten anbietet. Demnach weist Intersektionalität auf die notwendige Verbindung von politischen und theoretischen Bewegungen hin. Intersektionalität war nie eine abstrakte Theorie, sondern kann als historische Strategie des Widerstandes gegen Rassismus, Kapitalismus und das Patriarchat, sowie deren Verschränkungen miteinander verstanden werden. Grundlegend ist, dass unterschiedliche Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus, Homophobie etc. binäre Differenzen schaffen (Schwarz/weiß, Frau/Mann, heterosexuell/homosexuell etc.) – und nicht umgekehrt. Diese Differenzen werden als „Differenzlinien“ bezeichnet. Im Prozess der Diskriminierung kann es zur Überschneidung von zwei oder mehreren Linien kommen und damit auch zur Schaffung von intersektionalen Identitäten, z. B. als Schwarze Frau, Schwarze queere Frau, Schwarze Transfrau etc. Die politische Kraft der Intersektionalitätstheorie besteht darin, komplexe Formen der Diskriminierung in ihrer Verwobenheit wahrzunehmen und zu thematisieren, ohne die Perspektive auf Schwarze Frauen zu beschränken oder sie zu ignorieren. Was also mit Sojourner Truth begann und sich fast zwei Jahrhunderte fortsetzte, ist das Bestreben, die vermeintlich homogene Kategorie ‚Frau‘ aufzubrechen, um Identität als polyphones und nicht als monophones Konstrukt zu verstehen.
Als Zukunftsperspektive knüpft Intersektionalität an die Historie des Schwarzen Feminismus an, um die sozial konstruierten Differenzlinien herausarbeiten und ihre Wechselwirkung und der damit zusammenhängenden Verletzungsmacht erfassen zu können. Intersektional zu denken und intersektional zu handeln heißt daher immer auch, der Unsichtbarmachung Schwarzer (feministischer) Geschichte entgegenzuwirken. Das übergeordnete Ziel muss es daher sein durch das Erzählen Schwarzer Geschichte(n) in Politik, Medien, Film und Fernsehen intersektionale Gerechtigkeit zu erreichen.
Literatur:
- Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Center for Intersectional Justice (Hg.) (2019): „Reach Everyone on the Planet…“ Kimberlé Crenshaw und die Intersektionalität. Texte von und für Kimberlè Crenshaw. Berlin: Rucksaldruck
- Kelly, Natasha A. (Hrsg.) (2019): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster: Unrast Verlag.
- Oguntoye, Katharina/Opitz, May/Schultz, Dagmar (Hrsg.) (1986): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin: Orlanda Frauenverlag