Diversity Kolumne #2: Haltung, Wahrnehmung & Verantwortung
Tsepo Bollwinkel denkt, forscht, schreibt und lehrt zu Themen sozialer Gerechtigkeit mit den Schwerpunkten Rassismus, SOGI (Sexuelle Orientierung/Geschlechtliche Identitäten) und Nord/Süd Politiken. Tsepo Bollwinkel hat die letzten beiden Treffen der Diversity zum Thema SOGI geleitet und beschreibt nun in unserer zweiten Ausgabe der Diversity Kolumne die Kernfragen der beiden AG-Sitzungen und erläutert deren Bedeutung für strukturelle Veränderungsprozesse, die alle Diskriminierungsformen gleichermaßen betreffen.
Haltung, Wahrnehmung & Verantwortung
Ein Gastbeitrag von Tsepo Bollwinkel
Ich bin noch keinem Menschen begegnet, der Gesellschaft nicht aus einer Grundhaltung von Anerkennung der Würde und des Existenzrechtes aller Menschen heraus zu gestalten versucht. Etwas weniger Menschen bejahen bedingungslos, dass alle Menschen wirklich gleich an Würde und Wert sind. Und noch etwas weniger sagen, es sei ihr Anspruch an sich selber, entsprechend dieser menschenrechtlichen Grundhaltung auch zu handeln. Trotzdem: Es ist die überwältigende Mehrheit aller Menschen, die eine solche Haltung vertritt.
Das ist ja eigentlich kein schlechter Ausgangspunkt für ein gerechtes gesellschaftliches Miteinander, für eine Welt ohne strukturelle und institutionelle Gewalt wie z. B. Sexismus, Rassismus, Heteronormativismus, Klassismus usw. Wir wissen, dass unsere Gesellschaft aber eben nicht frei von diesen und so vielen anderen Ungerechtigkeiten ist, dass sie im Gegenteil zutiefst von ihnen durchdrungen ist. Die durch diese Gewalt Marginalisierten zahlen dafür einen unerträglichen körperlichen und seelischen Preis. Unsere gesamte Gesellschaft zahlt dafür einen Preis, weil ihr so Integrität und Legitimität mangelt.
Was läuft schief, wenn doch eigentlich alle das „Gute, Wahre und Schöne“ wollen? Die allerbeste Haltung hat keinerlei Wirkmacht, wenn sie mit einer Unfähigkeit zur Wahrnehmung von Ungerechtigkeit verbunden ist. Nein, ich muss diesen Satz verschärfen: Die allerbeste Haltung ist völlig sinnlos, wenn sie mit der Weigerung einhergeht, die bestehenden strukturellen Ungleichheitsverhältnisse wahrzunehmen.
Es sind doch eigentlich schon alle Bücher geschrieben, alle Reden gehalten, alle YouTube Videos eingestellt, alle Petitionen verfasst worden, in denen die struktureller Gewalt Unterworfenen auf ihre Situation aufmerksam machen, in denen sie ihre Forderungen nach Gerechtigkeit in die Welt rufen. Seit Jahrhunderten. Auch die Masse der klugen Fachbücher zum Thema ist so groß, dass es schon lange eines Willensaktes bedarf, um das darin gesammelte Wissen nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Wer heute strukturelle Ungerechtigkeit und deren alltägliche Auswirkungen nicht wahrzunehmen vermag, hat keine Bildungslücke, sondern will nicht wahrnehmen. Die große Empörung, mit der diese Ignoranz darauf reagiert, wenn sie denn doch einmal mit gesellschaftlicher Realität in Berührung kommt, die kunstvollen und aufwändigen Abwehrmanöver, die dann in Talk Shows und Zeitungsartikeln zelebriert werden, zeigen sehr deutlich, dass die schöne menschenfreundliche Haltung oftmals leider mehr eine Attitüde ist als ernster Wille und Bereitschaft, die Bequemlichkeit der eigenen Echokammer hinter sich zu lassen.
(Der letzte Absatz zeigt, dass auf solche Ignoranz eine Resonanz erfolgt: Ich z. B. werde wütend.)
Wer es wirklich ernst meint mit der unantastbaren Würde des Menschen, der muss bereit und fähig sein zur Wahrnehmung und zum lebenslangen Lernen. Die Bereitschaft gilt der bedingungslosen Akzeptanz derer, die nicht meinen eigenen Normen entsprechen. Die notwendige Fähigkeit ist, sich immer wieder aufs Neue selber in Frage zu stellen. Anstrengend? Ja. Unbequem? Und wie! Aber auch unendlich bereichernd. Denn wie kann ich mein volles Menschsein leben und genießen, solange andere durch strukturelle Ungerechtigkeit daran gehindert werden?
Es gibt einen guten egoistischen Grund, aus einer theoretischen Haltung reales Leben und Handeln werden zu lassen. Nämlich die ureigene persönliche Menschenwürde. Wenn ich jedoch die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit verweigere und mich damit in einem Status von Unfähigkeit zu Veränderung belasse, strafe ich meine angebliche Haltung Lügen. Und gegen diese kognitive Dissonanz helfen weder 5 neue IPhones noch vegane Würstchen. Das ist ein Grund, warum die Weigerung zur Wahrnehmung so oft so aggressiv agiert. Auch die berühmte „fragility“ ist übrigens eine Form der Aggression.
Der Prozess der Veränderung beginnt mit Wahrnehmung. Wenn ich gelernt habe zuzuhören, nachzuforschen, nach strukturellen Bedingtheiten zu fragen, werde ich Realitäten kennen lernen, die ich aus meinen privilegierten Positionen heraus ignorieren konnte. Und wenn ich mein neues Wissen mit meinen Haltungen abgleiche, ergibt sich daraus eine Notwendigkeit zu gesellschaftlichem Handeln, einem Handeln, das hin zu mehr Gerechtigkeit und Menschenwürde für alle führt – und damit auch zu mehr eigener Menschlichkeit.
Eine an Menschenwürde und Gerechtigkeit orientierte persönliche Haltung bringt die Verantwortung mit sich, ständig an der Wahrnehmung des gesellschaftlichen Ist-Zustandes zu arbeiten. Und das, was an struktureller Marginalisierung wahrzunehmen ist, bringt die Verantwortung mit sich, konsequent und kontinuierlich für Veränderung einzutreten. Dann, nur dann, schafft Haltung auch Realität.