Wir trauern um Gernot Roll: Ein Nachruf von Edgar Reitz

Mit großer Trauer haben wir diese Woche vom Tod von unserem Mitglied Gernot Roll erfahren. Roll gewann 2002 die Lola in Gold in der Kategorie Beste Kamera für „Nirgendwo in Afrika“. Schon 1992 und 1993 erhielt er jeweils das Filmband in Gold. 2014 war er nominiert für den Deutschen Filmpreis für seine Arbeit an „Die andere Heimat“. Wir bedanken uns bei Edgar Reitz, der folgenden persönlichen Nachruf verfasst hat. Unsere Gedanken sind bei seiner Familie und seinen Freunden.


Zum Tod von Gernot Roll

von Edgar Reitz

Schon bei unserer ersten Begegnung im Mai 1976 bestätigte sich, dass wir den richtigen Ton miteinander finden werden. Ich wollte mit Gernot Roll den Film STUNDENULL drehen und zeigte ihm deswegen einige meiner frühen Filme. Als Gernot sah, dass ich selbst den 35-mm-Projektor bediente und eigenhändig die Filmrollen zu großen Spulen koppelte, „taute“ er sichtlich auf, ging mir zur Hand und erklärte, er habe mich für einen Theoretiker gehalten, aber jetzt sei ich überraschenderweise der erste Regisseur in seinem Leben, der eine Maschine bedienen und mit der Filmtechnik umgehen könne. Ich konnte ihm berichten, dass ich mich im Grunde als Handwerker fühle und dass ich als Teenager sogar das Uhrmacherhandwerk erlernt hatte. Gernot war begeistert. Auch er sehe sich als Handwerker und könne den intellektuellen Überbau über dem Filmemachen nicht nachvollziehen. Auch die Bezeichnung „Künstler“ sei ihm eher suspekt, weil die meisten, die sich so nennen, nicht über das Können verfügen, ihre Ansprüche umzusetzen. Ich nahm mir Gernots Sicht in den folgenden Jahren zu Herzen und bemühte mich, niemals mit den filmästhetischen Theorien über unser handwerkliches Können hinaus zu gehen. Wir haben Hunderte von Drehtagen miteinander verbracht und immer war es die Freude am unmittelbaren Machen, die uns verband. Oft ging es in unseren Filmen um die Erinnerung an intensive Lebensmomente vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte, um Bilder und Situationen unserer Kindheit, aber auch um die erste Liebe oder um die ersten Erkundungen der Welt hinter dem Horizont. Es kam vor, dass wir wie Kinder auf den Knien durch das Gelände robbten, um Kamerapositionen zu entdecken, die unserer Erinnerung nahe kamen. Die Arbeit mit Gernot war immer ein Abenteuer und wir suchten die Geschichten nicht in den Buchstaben des Drehbuchs, sondern in der konkreten Szene mit den Objektiven und den Bewegungen der Kamera. Gernot begeisterte sich wie kein anderer für das Licht auf den Gesichtern der Darsteller, beobachtete ihr Mienenspiel wie ein Insekt, das den Moment abpasst, um darauf zu landen. Gernot „verspeiste“ die Szene mit den Augen und konnte sich höllisch freuen, wenn sie nach seinem Geschmack war. Gernot verfügte über einen untrüglichen Instinkt für starke Bilder. Er nannte sich manchmal ohne falsche Bescheidenheit „Bildverbesserer“.

Gernot war ein unvorstellbares Energiebündel am Set. Nie begrenzte er sein Interesse nur auf die Kameraarbeit. Für Gernot gehörte alles zusammen: Die Kostüme, die Ausstattung, Das Spiel der Schauspieler, die Organisation des Drehablaufes. In alles mischte er sich ein, ohne damit den verantwortlichen Mitarbeitern in die Quere zu kommen oder gar dem Regisseur Konkurrenz zu machen. Sein Engagement galt immer dem Film selbst. Er wollte einfach mit allen Mitteln zum Gelingen beitragen. Was kann es schöneres geben? Für Gernot war ein Regisseur oder eine Regisseurin, das absolute Zentrum eines Films. Wenn es für ihn eine Verpflichtung zur Loyalität gab, dann galt diese in erster Linie der Regie. Gernot verlangte von sich an den Drehtagen das Äußerste. Er übertraf alle im Team mit seinem Arbeits-Einsatz, was nicht selten dazu führte, dass seine Assistenten revoltierten oder aufgaben. Mit Gernot zu arbeiten, das hieß einfach, aufs Ganze zu gehen. Das war seine Art, das Glück herauszufordern.

Als Gernot vor ein paar Jahren in einem Interview sagte, dass seine Arbeit an der HEIMAT-CHRONIK der Höhepunkt seines Berufslebens war, machte mich dieser Satz sehr glücklich. Wer Gernot Roll kannte, weiß, dass er kein Mann der Komplimente oder billigen Sprüche war. Die Arbeit am Set war Gernots Lebenselixier. Er hielt es nicht aus, wenn es auch nur eine Woche in seinem Leben nichts zu Drehen oder zu Gestalten gab. Pausenlos arbeitete Gernot Roll über mehr als 50 Jahre und führte die Kamera in zahllosen Filmen, die so verschieden waren, dass man sich fragt, wie eine derartige Bandbreite überhaupt möglich war. Das Geheimnis war wohl Gernots Freude am puren Machen. Deswegen konnte er sich auf jede Aufgabe einstellen und hatte immer etwas zu geben. Das haben sich die Regisseure und Regisseurinnen, die mit Gernot gearbeitet haben, auch immer gern untereinander berichtet. Es gibt inzwischen so etwas wie eine Gernot-Roll-Familie von Filmleuten die sich durch ihn und über ihn in Freundschaft verbunden fühlen. Das konnte ich eindrucksvoll im Frühjahr 2019 erleben, als Gernot nach seinem 80. Geburtstag operiert wurde und wir alle wochenlang um ihn bangten und uns fast täglich untereinander über sein Befinden austauschten. Wie glücklich ging die Nachricht dann in die Runde, dass Gernot der teuflischen Krankheit entkommen sei. Man freute sich darauf, mit ihm weiter und immer und ewig weiterarbeiten zu können – und es wurden schon wieder Pläne geschmiedet und Träume geträumt. Jetzt umgibt ihn auf einmal endlose Stille. Mit Gernot Roll schweigen viele Träume. Wir werden ihn immer vermissen.


Wir sind stolz auf ein Interview mit Gernot hinweisen zu können, das wir für unser Filmbildungsportal vierundzwanzig.de vor einigen Jahren aufgenommen zu haben.